Don Kurt vom Neckar

Sie bogen auf den Marktplatz ein. Vorn am Rathaus schlüpften eben zwei Boote durch den Eingang. Gerade noch, bevor sich alle Insassen dabei duckten, hatte Kurt Schall die Kolossalgestalt Karl Klopps ausgemacht.

„Halt!“ rief er mit gebieterischer Stimme, als sei er die Stadtpolizei persönlich, die über dieses Rathaus zu wachen habe. „Halt! Da drin habt ihr nichts verloren!“ Und er trieb seine Jugendlichen an. „Schneller, Mann, ihr lahmen Enten, schneller!“

„So ein Tag!“ tönte es jetzt von weitem vom Farrenberg herab.

Sie langten ebenfalls am Rathauseingang an und ruderten hinein. Bis zum Bootsrand hinab mussten sie sich ducken, um überhaupt durchzupassen. Bald würde man einen anderen Weg finden, würde man durch ein Fenster des ersten Stocks steigen müssen, um hier hineinzugelangen. Jetzt, in der Eingangshalle, konnten sie wieder aufrecht sitzen. Ihr Blick fiel auf die beiden Boote Klopps, die am Treppenaufgang festgemacht hatten. Die Leute saßen noch in ihren Booten, während auf der Treppe gerade noch zwei Füße zu sehen waren, die nach oben stiegen.

Es mussten die von Karl Klopp sein.

Kurt Schall legte hastig neben den anderen an und sprang aus dem Boot. Vom Farrenberg  hörte man bis hierher Gejohle und rhythmisches Klatschen. „Manfred! Manfred! Manfred...!“

„Wartet hier!“ Kurt Schall lief die Treppe hoch. „Halt! Keinen Schritt weiter!“

Er gelangte in den ersten Stock – und sah Karl Klopp vor sich stehen.

„Was machst du denn hier?“ rief er ihm atemlos zu.

„Ha, des könnt e di au frage!“

„Lass bloß den Quatsch!“

„Was für en Quatsch denn?“

„Jetzt tu nicht so! Ich weiß genau, was du hier willst – das Archiv ausräumen!“

„Ha, wenn´s doch bald überschwemmt wird!“

„Jetzt tu nicht so scheinheilig! Ich weiß genau...“

„Was woisch´n du?!“ Jetzt wurde auch Klopp zornig. „Hasch du a Ahnong, was da lagert, en dem Archiv, was da hegoht, wenn´s Wasser neilauft? Du hasch doch emmer bloß a große Klapp, willsch bei ällem mitschwätze, aber hasch von nex a Ahnong!“

Hier hätte sich Schall am liebsten auf den Unverschämten gestürzt, aber er hielt sich gerade noch zurück.

„Du elender Heuchler, du kannst andere für dumm verkaufen, aber nicht mich! Ich weiß doch genau, worauf du aus bist, dir ist es doch noch nie um die Stadtgeschichte gegangen, du hast  Häuser abreißen lassen, wo´s nur ging, dir ging´s immer bloß ums Geld, und mit Geld hast du immer gemeint, könntest du alles regeln, alles kaufen und alle, aber mich nicht, und das ärgert dich.“

„Mi ärgert glei ebbes ganz anders!“

„Dich ärgert, dass ich das Archiv ausräumen will, weil ich dann die Beweisstücke sichere  von deinen Machenschaften...“

„Was´n für Macheschafte?“

„Das weißt du besser als ich! Oder hältst du uns Wifflinger wirklich für so dumm, dass uns noch nicht aufgefallen ist, wie du in dieser Stadt hier alles bekommst, was du willst, dass für dich alle Beschlüsse und Bestimmungen wieder umgeworfen werden?“

„Ha, i dua ja schließlich au ebbes!“

„Was du tust und schon getan hast, das steht bestimmt zur Genüge in den Akten, und deshalb hol ich mir die jetzt, die werden gesichert, die nimmst nicht du mit und lässt die Hälfte verschwinden und verdrehst die Stadtgeschichte und lässt dich hinterher sogar noch als Retter des Archivs feiern!“ Und damit wollte er schnurstracks an Klopp vorbei und zur Tür des Archivs gehen. Doch der ging mit und stellte sich ihm nach wenigen Schritten in den Weg.

„On du wirsch des Zeig genauso wenig mitnemme“, grunzte er den Pfarrer an. „Du wirsch genauso wenig an dem Archiv ebbes mache on dia Stadtgschicht nach deim Gusto verändere, so, dass du als dr große Held dastahsch, mit dere Verbrennongsalag, wo da dauernd dein Senf dazugebe hasch, on älle dene Sache on dass du de na au no als dr große Retter vom Archiv feire läsch – denn des isch´s bloß, was du willsch!“

„Geh jetzt aus dem Weg! Du hast kein Recht, mich aufzuhalten!“

„On du genauso wenig!“

Kurt Schall versuchte sich mit Gewalt Durchgang zu verschaffen, aber Karl Klopp hielt ihn am Oberarm fest, und es kam zu einem Handgemenge, Kurt Schall versuchte, sich loszureißen und holte aus und schlug nach Karl Klopp, aber der Schlag ging daneben, weil der andere auswich, und beide zerrten an ihren Mänteln und rissen sie sich fast vom Leibe.

„Na gut.“ Kurt Schall stand plötzlich wieder ruhig und versuchte es mit einem Angebot.

„Du kannst ja mitkommen. Bringen wir das Zeug gemeinsam zu mir. Dann kannst du dich davon überzeugen, dass ich nichts daran mache.“

Klopp stand für einen Moment erstaunt.

„Ja – on na soll i Tag on Nacht bei dir uff dr Lauer liege?“

„Weißt du vielleicht was Besseres?“

„Du kommsch mit, on mir brenget´s zu mir.“

„Ich hab ´ne Gemeinde zu versorgen, ich kann nicht die ganze Zeit aufpassen, dass du nichts wegnimmst.“

„On i han a Gschäft on des Pech, dass e au no davo leb, dass mei Geld net automatisch jeden Monat uffs Konto purzelt wia bei dir! Deshalb han i au koi Zeit, danebe z´ liege on uff z´ passe!“

„Ach was, das ist doch nur vorgeschoben. Und überhaupt – wo willst du das ganze Zeug denn hinbringen? Eben hast du eben noch gejammert, dass bei dir bald alles überschwemmt ist!“

„Moinsch, i hätt koin Dachstock, wo e´s nadua?“

„Doch, ein Dachstübchen hast du schon, aber da scheint´s ein bisschen locker zu sein!“

„Uff jeden Fall han i en trockene Platz on hol des Zeig jetz raus!“ Und damit setzte er sich in Richtung Archivtür in Bewegung.

„Das wirst du nicht!“

„I war als erster da, on i hol´s jetz!“

Kurt Schall stellte sich ihm in den Weg. „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“

Von unten hörten sie eine Stimme. „Ja, kommet ihr bald, mir kommet sonsch nemme naus!“

„So was Verrücktes!“ schimpfte Kurt Schall und rang mit den Fäusten, „Wir streiten uns hier, und das Archiv nimmt derweil das Hochwasser mit!“

„Genau, des moin i au!“

„Also, dann geh doch weg!“

„Gang doch du!“

„Das würde dir so passen!“

„Du hasch dahanne nex vrlore! Was bildesch du dir überhaupt ei! I war z´erst da, außerdem ben e Gemeinderat!“

„Du hast lange genug gemacht, was du wolltest!“

„Gang jetz weg!“

Gewaltsam versuchte Karl Klopp, sich Durchgang zu verschaffen, aber Kurt Schall stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn mit übermenschlicher Anstrengung fest. Der Unternehmer war einen halben Kopf größer und sein Körper doppelt so stark, aber der Pfarrer bot all seine Kräfte auf. Er spürte den starken Arm Klopps, der ihn zur Seite drücken wollte, und er fühlte in ihm die Vergangenheit wiederkehren, die schon längst begraben schien.

„Das würde dir so passen – genauso wie früher alles mit Gewalt regeln wollen, weil du meinst, du kannst es!“

„Ja, erinner de no – du halbe Portio!“ Er versuchte, Schall in den Schwitzkasten zu nehmen, aber der entwich.

„Jetzt hat sich´s ausgeschlägert, mein Lieber! Wir sind nicht mehr in der Volksschule, das ist vorbei, mich kriegst du so nicht mehr klein!“

 „Des werde mr ja sehe!“

Und Karl Klopp versuchte den Pfarrer zu packen und zu Boden zu werfen, aber der wich zurück, sodass er dessen Hemd erwischte, das eine langen, reißenden Ton von sich gab.

„Du bisch ja bloß eibildet!“ schnauzte er den Pfarrer an, „damals scho on heit genauso! Du hasch scho damals gmoint, wärsch ebbes Bessers, bloß weil da uffs Gymnasium gange bisch, dabei woisch du genau, i hätt´s au könne, mir hen´s bloß meine Eltern net erlaubt, weil e ´s Gschäft hätt übernemme solle, aber der Krattel wird dr no vrgange, des vrspreche dr, aus mir  isch trotzdem ebbes worde!“

„Bloß was!“

„Meh als aus dir halbe Portio!“

„Ein Prolet warst du schon damals, und ein Prolet wirst du bleiben!“

„Des kriagsch zrück!“

Wutentbrannt stürzte sich Klopp auf seinen Widersacher, der ihm jedoch den Kopf in den Magen rammte. Zwar sah Schall selbst für einen Moment Sterne, aber auch sein Gegenüber ließ von ihm ab.

„Und jetzt lässt du mich vorbei, sonst bist du schuld! Wegen deinem Dickschädel sauft das Archiv noch ab!“

„Wege dir, du sturer Bock! Emmer no´s gleiche wia damals! Mir hättet den Wandertag kriege könne, wenn du au mitgmacht on ebbes gspendet hättesch, mir hättet am meiste zammekriagt, aber du hasch de natürlich stur stelle müsse!“

„Warum muss ich tun, was alle machen?!“

Von unten hörte man eine noch drängendere Stimme.

„Jetz kommet doch endlich, om älles en dr Welt – mir müsset naus, ´s Wasser isch glei an dr Decke!“

„Da hörst du´s! Geh jetzt weg!“ rief Schall, und sein Atem raste.

„Gang doch du!“ schnaubte Klopp wie ein Stier zurück.

Schall riss sich los und lief die drei Stufen zum Eingang des Archivs hoch, riss die Tür auf, wollte hinein, aber eine unerbittliche Pranke riss ihn zurück. Kurt Schall, dem ohnehin schon schwindelig war, taumelte herum und wieder die drei Stufen hinab ins Foyer. 

„Da wird bliebe!“

„Nimm deine Pfoten weg!“

„Halt du dein Mund!“

Karl Klopp brüllte wie ein Stier und versuchte, ihn zu packen und zu Boden zu werfen. Kurt Schall, am Ende seiner Kräfte, vermochte nicht mehr auszuweichen; seine Glieder waren schwer wie Blei, aber er hielt sich krampfhaft auf den Beinen. Wie aus der Ferne spürte er, wie Karl Klopp, ebenfalls nach Atem ringend, ihn packte und in den Schwitzkasten zu nehmen versuchte.

„Mit dir werd i fertig!“ schnaubte Klopp entschlossen.

„Wart´s ab!“ gab Schall zurück, nicht minder entschlossen. „Dir werd ich die Stadt nicht überlassen!“

„I dir au net!“

„Genauso wenig wie die Gerlinde damals!“

„Wo i di au em Schwitzkaste ghet han!“

„Und dann das Fracksausen bekamst, als Gerlinde plötzlich dastand!“

„Dia tät jetz genauso lache über die wia damals, wo da so dreckig dagstande bisch!“

„Während du abgehauen bist!“

„Aber glacht hat se!“

„Ja, über dich, als Herr Filter sagte, dass du nicht aufs Gymnasium kommst!“

„Des isch net wahr!“ Karl Klopp packte ihn so heftig, dass sie gegen die Wand stießen, Klopp mit der Schulter und Schall mit dem Kopf, sodass er wieder Sterne sah und im nächsten Moment einen stechenden Schmerz verspürte. Er war kaum mehr klar im Kopf und fühlte, dass er bald ohnmächtig werden musste.

„Die Gerlinde hätte sowieso mich genommen!“

„So en Trialer wia di ganz bestimmt net!“

„Und ´nen Proleten wie dich schon gar nicht!“

„Des kriagsch zrück!“

Karl Klopp drückte fester, Kurt Schall versuchte, sich aus der Umklammerung zu reißen, sie taumelten vor den Stufen zum Archiveingang hin und her wie zwei Betrunkene; sie nahmen keine Notiz davon, wie das Wasser schon um ihre Füße schwappte und bei jedem Tritt aufspritzte. Der Pfarrer fühlte seine Lunge rasen und spürte Karl Klopps Schnauben wie das einer Bulldogge; der versuchte zu drücken und Kurt Schall zu Boden zu zwingen, aber es gelang ihm nicht. Wie von weiter Ferne hörten sie Stimmen von draußen. „Mir sen drauße! Machet´s Fenster uff, dass mr reikönnet! Schnell, ´s Wasser steigt!“

Sie waren wie in Trance, ineinander verkeilt, unfähig, einander loszulassen. Klopp versuchte mechanisch, Schall zu Boden zu werfen, aber es gelang ihm nicht, obwohl der schon nicht mehr in der Lage war, Widerstand zu leisten. Willenlos torkelte er hin und her, und jeder Schritt verzehrte jetzt die doppelte Kraft, da er gegen das ansteigende Wasser anwaten musste. Sie hätten eigentlich, wenn sie noch bei klarem Verstand gewesen wären, einander loslassen und durch das Fenster entkommen oder durch dasselbe die Rettung der Archivakten beginnen müssen. Stattdessen stapften und torkelten sie im Wasser hin und her wie zwei wildgewordene Keiler.

„Jetz regle mr des“, schnaufte Klopp, „oi für ällemal!“

„Ein für allemal“, echote Schall, „jetzt ist endgültig – Schluss!“

Und damit stießen sie abermals gegen die Wand, Schall diesmal mit dem Kopf gegen die Kante eines Türrahmens; er spürte einen stechenden Schmerz, der bis ins Innerste seines Kopfes drang, fühlte im nächsten Moment alles in sich verschwimmen. Schwerelos und wie in tiefer Nacht klatschte er ins Wasser, spuckte aus, was er in den Mund bekommen hatte, ruderte mechanisch mit Armen und Beinen, fühlte Kälte in seinen Körper dringen, ruderte langsamer, bis seine Glieder erlahmten und sein Kopf endgültig in der Finsternis versank.

 

 

(Aus dem Kapitel „Kampf ums Rathaus“, S.168-175 in „Don Kurt vom Neckar“)

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